Coole Insel

bunsen

Paul Ehrlich

1854-1915

Chemie ist langweilig – und Forschung ist nur was für Eierköpfe!
Von wegen! Lest diese Story und urteilt dann.

Der als Jahrhundert-Genie gerühmte Naturwissenschaftler und Schriftsteller Georg Christoph Lichtenberg (1742-99) fand heraus: „Wer nur Chemie versteht, versteht auch diese nicht.“

Fast alle, die in der Menschheitsgeschichte etwas Bleibendes geschaffen und erreicht haben, waren vielseitig interessiert und in mehreren Bereichen fachkundig. Manchmal kamen sie gerade in Gebieten zum Durchbruch, für die sie nicht ausgebildet und nach fremder Einschätzung gar nicht „zuständig“ waren.
Dies traf auch auf den Arzt Paul Ehrlich zu, der um die vorletzte Jahrhundertwende in medizinischen und chemischen Bereichen forschte und experimentierte, als im aufbrechenden industriellen Fortschritt in Europa noch sehr viele Menschen an den Folgen von Seuchen und ansteckenden Krankheiten starben.
Der Forschungspionier Ehrlich wäre uns vertrauter, wenn der frühere 200-DM-Schein öfter in den Händen der Menschen gewesen wäre: Der zeigte den Nobelpreisträger in mittleren Jahren und – er zeigt, was schlecht zu einem verbreiteten Vorurteil passt: einen Juden, der wie ein besonders vertrauenerweckender Mitteleuropäer aussieht.
Das schlesischen Städtchen Strehlen war als Granitsteinbruch und als Zentrum der Hausweberei und Strumpfstrickerei bekannt. Am Ort gab es neben fünf christlichen Kirchen eine Synagoge für die kleine jüdische Gemeinde, deren Vorsteher Paul Ehrlichs Vater war. Ismar Ehrlichs Mitbürger waren durch den Niedergang der Handweberei durchweg verarmt. Die aufwendige Destillation von Obst, Kartoffeln und Korn brachte wenig ein; auch das Nebengeschäft mit der Lotterie ging ständig zurück. Trotz sparsamer Haushaltsführung der aus einer Kaufmannsfamilie stammenden Mutter Rosa wäre das 40 Kilometer entfernte nächste Gymnasium für den am 14. März 1854 geborenen Paul unerreichbar gewesen – hätte er nicht einen wohlhabenden und wissenschaftlich interessierten Großvater gehabt, dem es Freude machte, den erkennbar begabten Jungen zu fördern.
Er bezahlte für ihn den Besuch des humanistischen Magdalenen-Gymnasiums in Breslau mit der notwendigen Unterkunft. Paul war kein Musterschüler; nur in Latein zählte er zu den Besten, Deutsch blieb sein schwächstes Fach. Keiner seiner Lehrer hätte für möglich
gehalten, dass Ehrlich einmal als Sprachschöpfer für neue medizinische Begriffe und als geistreicher Redner mit Fachvorträgen in mehreren Ländern gelten würde. In seinem Abiturthema „Das Leben ein Traum“ hatte er sich nur auf die chemischen Reaktionen im Hirn konzentriert und damit die Lehrer entsetzt; sie befürchteten eine schwierige Entwicklung des jungen Mannes.
Paul musste lernen, dass ihm nur ein Grundsatz helfen würde, sich in einer Gesellschaft durchzusetzen, die arme Juden verachtete und auch sehr erfolgreiche sehr misstrauisch beobachtete: Du musst eindeutig besser sein, mehr können, härter arbeiten, eindrucksvollere Erfolge haben (und immer bescheidener bleiben) als die christlichen Mitmenschen. Für einen, der körperlich immer zu den Kleineren zählte, war das besonders herausfordernd.
In den Destillationsräumen seines Vaters wurde Paul mit vielen chemischen Prozessen vertraut und hat in einer eigenen Labor-Ecke Versuche machen können. Er hat die scheinbar unsinnigsten Mischungen und Verbindungen gewagt und dabei eine Geduld und Zähigkeit entwickelt, die seine Schulfreunde nicht verstehen konnten. Pauls großer Stolz war eine bunte Sammlung kleiner Fläschchen in vielen Formen, auf denen aufgeklebte Schildchen den Inhalt angaben.
Viele dieser farbigen oder wasserklaren Flüssigkeiten und Pulver waren Geschenke des Stadtapothekers, der den an chemischen Vorgängen so sehr interessierten Jungen mochte und ihn manche Stunde bei seiner Arbeit zusehen ließ. Eine stattliche Fläschchen-Sammlung hat Ehrlich sein Leben hindurch begleitet, aber anders als viele Sammler hat er anderen Interessenten immer gern von seinen Schätzen abgegeben.

Überraschenderweise wollte Paul Ehrlich kein Chemiker werden, jedenfalls nicht im Hauptberuf. Er folgte dem Beispiel seines neun Jahre älteren Vetters Carl Weigert, der sich bereits als Krankheitsforscher einen Namen gemacht hatte und wählte Medizin als Hauptstudium.
Auch als Student blieb er anfangs in Breslau, wagte dann aber einen weiten Sprung nach Straßburg, wo ihn Professor von Waldeyer erstmals und ihn nachhaltig inspirierend zu Färbeversuchen mit Körpergewebe ermutigte. Später vertiefte er seine Kenntnisse in Freiburg und kam zum Studienabschluss nach Leipzig, wo sein Vetter Professor war.
Die Doktorarbeit des 24-Jährigen beschrieb Erfahrungen mit der Einfärbung von Körpergewebe und den daraus zu erwartenden Forschungs- und Praxismöglichkeiten – und er kündigte damit zugleich sein Arbeitsprogramm für die nächsten Jahre an, das er klar zu erkennen schien.
Schon zwei Jahre zuvor hatte sein erster Forschungsbericht Aufsehen erregt. Der Student Paul Ehrlich hatte über eine eigene Entdeckung von Zellenelementen, die er „Mastzellen“ nannte, berichtet und beschrieben, wie sich die Körnchen im Zellinnern färben und unter dem Mikroskop unterscheiden lassen. Er erarbeitete sich eigene Mikroskopiertechniken und
wurde später Mitherausgeber eines Anleitungsbuches.
Während Paul Ehrlich unbekümmert auch in chemischen Arbeitsgebieten forschte, tat dies zur gleichen Zeit in den USA sein Jahrgangsgenosse George Eastman, der mit seiner Amateur-Begeisterung für die chemischen Grundlagen der Photographie und einem Sinn für geniale Vereinfachungen das größte Foto-Imperium der Welt begründet – und auch ein für alle Sprachen geeignetes Kunstwort für seine Hauptprodukte erfunden hat: Kodak.
Nach der ärztlichen Staatsprüfung erhielt Paul Ehrlich eine der begehrten Assistentenstellen an der berühmten Charité in Berlin. Der Klinikleiter von Frerichs erkannte die Fähigkeiten des jungen Mediziners und bot ihm gute Forschungs- und Praxismöglichkeiten auf benachbarten, aber bisher getrennten Gebieten.
Mit neunundzwanzig Jahren hatte Ehrlich nach nur kurzer Bekanntschaft die schlesische Industriellen-Tochter Hedwig Pinkus geheiratet, die sich als ideale Lebenspartnerin für ihn erwies. Ein Jahr später brauchte er ein neues Hausschild: „Prof. Ehrlich“.-
Sein Förderer starb unerwartbar früh. Der neue Chef hielt wenig von Ehrlichs Forschungsarbeit und spannte ihn mehr in den klinischen Alltagsdienst ein; das dämpfte ihn sehr. Ein zweiter Rückschlag bewog ihn dann, zu kündigen und die Charité nach neun Jahren zu verlassen: Er hatte sich im Labor oder bei den Kranken eine Lungentuberkulose zugezogen. Mit Unterstützung seines Schwiegervaters und in Begleitung seiner jungen Frau zog er sich für fast zwei Jahre nach Ägypten zurück.
Dieser kurze Ausstieg aus der Alltagsarbeit hat ihn fürs Leben gestärkt. Es war offenbar für ihn an der Zeit gewesen, mit einigem Abstand über die Weltentwicklung und über die Situation der Medizin und der Chemie nachzudenken und seine konkrete Aufgabe zu erkennen.
Das Deutsche Reich behauptete sich in jenen Jahren immer lauter als neue Großmacht neben England, Frankreich und Russland. Es war die Zeit der stürmischen Entwicklung von Industrie und Industriekapitalismus mit den die Menschen schicksalhaft beeinflussenden Folgen. Zu dieser Phase der Zeitgeschichte gehört auch ein Wiederaufflammen des Judenhasses in Europa. Die Kampfschrift des Wissenschaftlers Dühring zu einer selbstgestellten
„Judenfrage“ zielte auf die Rücknahme der Gleichberechtigung, auf die (Wieder-) Einrichtung von Judenghettos, eine „durchgreifende“ Judenbekämpfung und stärkte vielen Antisemiten den Rücken. Die öffentliche Diskussion über Möglichkeiten der Vertreibung und des „Unschädlichmachens“ von Juden muss alle Betroffenen sehr verunsichert haben. Die Naturwissenschaften begannen sich von den Geisteswissenschaften zu lösen, teilweise zu spezialisieren und eigene Forschungsmethoden zu entwickeln. Bisher galt als einheitliche Vorgehensweise, mit Fleiß und Fantasie nach allenfalls leicht abgewandelten Methoden eine Zweifelsfrage oder einen Gegenstand so lange zu prüfen, bis die Beschreibung des Zieles als nachprüfbar gesichert gelten konnte. Ein nächster Forschungsschritt sollte sich anschließen können – wobei zweitrangig war, ob das Wochen oder Jahre dauern würde.
Die Forscher hatten die Grundeinstellung, dass Forschungsergebnisse den Menschen im fortschrittlichen Sinn weiterhelfen müssten – aber manche Forscher verbesserten nur Tötungswerkzeuge. Alfred Nobel, der schwedische Erfinder von Sprengstoffen, hatte erleben müssen, dass seine Erfindungen den Machthabern hauptsächlich zum massenhaften Töten und Vernichten willkommen waren. Auch diese Erfahrungen haben ihn zu seiner Nobelpreisstiftung bewogen.
Die Ärzte behandelten damals alle Krankheiten überwiegend mit aus dem Mohn, aus der Fingerhutpflanze und aus dem Chinarindenbaum gewonnenen Arzneien – und mit Erfahrungsschätzen aus der alten Volksmedizin. Man kannte noch kein einziges Heilmittel für eine bestimmte Krankheit. Das zu früh als Wundermittel gerühmte Tuberkulin gegen die Volksseuche Tuberkulose hatte sich als noch ausgereift erwiesen; der von großen Hoffnungen begleitete Arzneimittelzweig konnte diesen Rückschlag schwer verkraften. Nur die Chirurgie schien zu Erfolgen durchzubrechen; durchzusetzen begann sich auch die Erkenntnis, dass man in der Wundbehandlung keimfreie Hände und Verbände und keimfreie Räume braucht und wie Hygiene zu erreichen ist. In den Kliniken für Innere Medizin aber herrschte Rat- und Hilflosigkeit vor – und Skepsis gegen Versuche mit neuen Mitteln.
Der seiner Zeit weit vorausdenkende Mediziner Johannes Müller hatte schon vor Jahrzehnten die weiterführende Richtung gewiesen: „Die Medizin kann wahre Fortschritte nur dadurch machen, dass die ganze Physik, Chemie und alle Naturwissenschaften auf sie angewendet werden.“ – Es fehlten aber die Anwender.
Als Paul Ehrlich geheilt, aber arbeitslos nach Deutschland zurückkam, richtete er sich ein Labor in seiner Wohnung ein. Die Krankheitsbilder, die ihm in Ägypten begegnet waren, hatten ihn auf neue Ideen gebracht und frühere Denkansätze vertieft. Er hatte einen Packen mit Kärtchen angesammelt, die er „Blöcke“ nannte. Mit Stichworten hatte er einen Einfall oder eine Versuchsreihe umrissen und hinzugefügt, wie er sich die Vorgehensweise vorstellte.
Auf diesen Blöcken schrieb er bis auf die Satzanfänge alles klein, mit einer großzügig vereinfachten Rechtschreibung. Seine späteren Mitarbeiter hielten morgens immer erst eine „Entzifferungskonferenz“, denn für sie waren es Arbeitsanweisungen für einen Tag oder für eine lange Versuchsreihe. Ehrlich behielt den Überblick über die verteilten Aufträge, weil er die Vorhaben in einem Heft festhielt.
Als Robert Koch von seiner Rückkehr hörte, warb er den Forschungspartner für die Mitarbeit in seinem neuen Institut für Infektionskrankheiten. Ehrlich hatte vor Jahren seinen Vortrag über die Entdeckung der Tuberkelbazillen gehört und noch in der folgenden Nacht Färbeversuche unternommen. Als er dabei versehentlich Glasplättchen auf den Laborofen stellte, entdeckte er die günstige Möglichkeit, Tuberkelbazillen mit Erwärmung zu färben.
Robert Koch brauchte die Unterstützung von einem, der wie er selbst durch die Zellfärbung Forschungsfortschritte erwartete, denn die Kollegen waren sehr konservativ und sparten nicht mit Spott und Häme. Auch der weltberühmte Mediziner Virchow hatte sich über die „Bazillenfärber“ lustig gemacht. Es war noch nicht selbstverständlich, einander zuzuarbeiten.
Paul Ehrlich wurde auch in dieser Hinsicht vielen ein Vorbild.
Seine Art zu leben hat Ehrlich nach der Genesung nicht wesentlich geändert. Vor allem hörte er nicht auf, seine geliebten schwarzen Zigarren vom Morgen bis in die Nacht zu rauchen.
Sein Arbeitszimmer war immer umnebelt. Ehrlichs Sekretärin fand, das hätte nur den Vorteil, dass einige Besonderheiten seines Arbeitszimmers weniger deutlich sichtbar waren –

 

Paul_Ehrlich_Arbeitszimmer

Paul Ehrlich hatte ein in absolutes Chaos führendes Nicht-System der Büroablage: Während seine Fläschchen-Sammlung bevorzugte Plätze in Regalen hatte, stapelte er seine Bücherberge, Packen mit Fachzeitschriften, Berichten und Zusendungen aus aller Welt meterhoch auf seinem Schreibtisch, auf dem Besuchersofa und auf allen Stühlen.
Nur er selbst fand sich in diesem Wust zurecht. Seine Sekretärin litt sehr unter diesem Zustand; wenn Ehrlich ihr Briefe und Forschungsberichte diktieren wollte, musste sie sich erst ein Eckchen auf dem Schreibtisch freiräumen. Wenn wichtiger Besuch kam, mussten die staubigen Stapel für Stunden fortgeräumt, dann aber sofort wieder zurückgebracht werden.
Ehrlich verhinderte ein gründliches Aufräumen durch die Behauptung, ihm sei ein gefährliches Giftpulver in die Stapel gerieselt und nur er sei gegen dieses Gift immun.
Dieses Chaos brauchte Ehrlich vielleicht für die Entfaltung seiner Kreativität. Er fand allerdings überall Platz zum Denken und er konnte seine Substanzen aus der Fläschchen-Sammlung freihändig mischen. Ausländische Fachkollegen und hohe Besucher bestauntes sein angrenzendes Privatlabor, in dem alle komplizierten Apparaturen fehlten. Unter hunderten und nach keinem erkennbaren System geordneten Fläschchen und ReagenzGläschen auf dem Arbeitstisch thronte ein Bunsenbrenner mit seinem Zubehör- das war sein
schlichtes Reich, aus dem er unerschöpflich Neues hervorbrachte: neue Untersuchungsmethoden und neue Heilmittel, denen er treffsicher neue Namen gab. Bei Robert Koch begann Ehrlich seine grundlegenden Arbeiten über die Immunität.
Er verwendete dabei Pflanzengifte und konnte bald beweisen, dass ein Körper gegen eine eigentlich tödliche Giftmenge immun wird, wenn ihm kleine, stetig gesteigerte Mengen des Giftes zugeführt werden. Mit dieser nach unzähligen Versuchen gewonnenen Erkenntnis öffnete sich der Zugang zu dieser aktiven Immunisierung, aber auch zur passiven Immunisierung, bei der ein Gegengift aus dem Blut aktiv Immunisierter eingespritzt wird.
Für seine Immunitätsforschung erhielt Ehrlich 1908 den Nobelpreis.
Im Institut von Robert Koch traf Ehrlich mit dem gleichaltrigen Emil Behring zusammen, der auch mit fremder Förderung zu einem allerdings mit Auflagen verbundenem militärärztlichem Studium gekommen war. Als Stabsarzt hatte er sich zu Robert Koch abordnen lassen, um in der Seuchenforschung weiterzukommen. Behring hatte im Blut von Pferden, die mit Diphtherie-Bakterien infiziert worden waren, heilende Immunstoffe entdeckt und unter größter Anteilnahme der Öffentlichkeit ein Heilserum gegen diese durchweg tödlich verlaufende ansteckende und sehr verbreitete Krankheit herstellen lassen.
Dieses Mittel versagte, weil es noch nicht serienreif war. Das wurde es erst, nachdem Paul Ehrlich in langen Versuchsreihen ein verbessertes Serum gefunden hatte. Über die Einzelheiten und über die geschäftliche Nutzung entstand ein Graben zwischen diesen beiden herausragenden Forschern, unter dem Ehrlich mehr litt als der schwierig veranlagte Behring.
Beider Karrieren verlief sehr ähnlich, oft in Konkurrenz – und Behring schlug immer mehr für sich heraus.
Beide wurden Professoren, beide bekamen – Behring als erster, Ehrlich als dritter Deutscher – den Nobelpreis für Medizin, beide wurden vom Staat abgestuft mit den damals hochbegehrten Titeln Geheimrat, Wirklicher Geheimrat und dann noch den Zusatztitel „Exzellenz“ ausgezeichnet – in der Endstufe bedeutete dies, dass diese Menschen in der dritten Person angeredet wurden: „Brauchen Exzellenz heute neue Zigarren?“
Behring erreichte aber immer mehr – weil er rücksichtsloser war, energischer forderte und weil er kein Jude war: ihm hatte der Kaiser, wie das bei sehr verdienstvollen und international anerkannten Wissenschaftlern üblich war, den sogar erblichen Adel verliehen; er wurde ein „von Behring“. Diese Auszeichnung bekam Paul Ehrlich nicht. Aber steil aufwärts ging es auch mit Ehrlich. Wieder einmal fand er einen Förderer, der einen Blick für seine Gaben hatte. Und dies kann nicht genug gerühmt werden, denn es war ein Beamter ganz ungewöhnlicher Art und eine Kostbarkeit in einem preußischen Ministerium:
Fritz Althoff hieß dieser umfassend gebildete und weitsichtige Mann, der sich mehrfach für Paul Ehrlich entschieden hat, obwohl er ein Freund Behrings war.
Althoff setzte gegen Behrings eigene Ansprüche durch, dass Ehrlich Leiter eines improvisiert
eingerichteten neuen Instituts für Serumforschung und Serumprüfung wurde. Ehrlich und sein Team leisteten so vorzügliche und umfassende Arbeit, dass die „alte Bretterbude“ dem Tempo und dem Umfang der Forschung nicht mehr gerecht werden konnte. Althoff erreichte in jahrelangen Verhandlungen, dass in Frankfurt am Main ein Institut für experimentelle
Therapie errichtet wurde; wieder machte er Ehrlich – wieder anstelle von Behring – zum Direktor. Er hielt engen und abschützenden Kontakt zu Ehrlich und regte ihn ausdrücklich auch zur Erforschung von Krebsgeschwüren an – und Paul Ehrlich sorgte für weiterführende Ergebnisse.
Das moderne Institut erwies sich als eine sehr fruchtbare Forschungsstätte, besonders, nachdem durch eine großzügige Spenderin, Frau Speyer – es war für Ehrlich nach dem Großvater, dem Straßburger Professor, dem Berliner Klinikleiter, Schwiegervater Pinkus, Robert Koch und Fritz Althoff die siebte Fördererpersönlichkeit in seinem Leben – ein Neubau für die praktische Krankenbehandlung mit den hier entwickelten Heilmitteln angegliedert werden konnte.
Hier arbeitete Ehrlich sechzehn Jahre lang mit großen, auch in stattlicher Fachliteratur dokumentierten wissenschaftlichen Erfolgen und mit weltweiter Anerkennung, die zu vielen Orden und Auszeichnungen führte: Ehrlich musste sich für ihn lästig oft in einen Festanzug zwängen. Mit der Stadt Frankfurt, die Ehrlich zum Ehrenbürger machte und die zum Institut führende Straße nach ihm benannte, war auch die neue Universität stolz auf die ihr in Paul Ehrlich zugewachsene Kapazität.
Aus vielen Ländern bewarben sich Forscher um die Möglichkeit, einige Monate unter Ehrlich arbeiten zu können. Die Arbeitsmethoden des mehrfachen Ehrendoktors und Preisträgers galten als vorbildlich, erfolgreich, allerdings auch als übergründlich. Seine Mitarbeiter, die täglich aber kaum halb so lang wie Ehrlich arbeiteten, stöhnten in Abwandlung des Sprichworts oft „Ehrlich färbt am längsten.“
Aus Japan war ihm ein junger Forscher empfohlen worden, mit dem Paul Ehrlich gern zusammenarbeitete, weil er gute bakteriologische Vorkenntnisse mit einer unendlichen Geduld und mit besonderer Gewissenhaftigkeit verband. Ihn setzte er darauf an, eine frühere, ergebnislos abgebrochene Forschungsreihe noch einmal nachzuprüfen. Ehrlich ermutigte den jungen Forscher aus einem sicheren Gefühl heraus, durchzuhalten – und der Versuch Nr. 606 wurde eine Weltsensation. Allerdings gab Ehrlich diese Rettungsmöglichkeit für Hunderttausende mit der Geschlechtskrankheit Syphilis Geplagte nicht schon bei seiner Nobelpreisrede 1908 bekannt, sondern erst zwei Jahre später – nach unzähligen weiteren Versuchen, Gegenversuchen und Erprobungen. Zusammen mit Sahatschiro Hata wird Ehrlich als Massenheiler dieser überall verbreiteten Liebesseuche gerühmt. Das Heilmittel wurde aus Arsen gewonnen, aus „heilendem Arsen“ – und so nannte Ehrlich das Mittel auf Lateinisch: Salvarsan. Er tat sich zum gegenseitigen Vorteil mit der chemischen Industrie zusammen – aber ihm fehlte die Geschäftstüchtigkeit seines Kollegen von Behring, der bereits eigene „Behring-Werke“ besaß. Der riesige Erfolg wurde Ehrlich sehr vergällt durch einen verbissenen Polizeiarzt und durch eifersüchtige und unbelehrbare Kollegen, die allen Erfolgen zum Trotz jahrelang vor Salvarsan warnten.
Sein Dackel Männe, den er – weil er keinen anderen fand – auch zum „Hüter des Defizits“ ernannt hatte und der ihn jahrelang zu Fahrten ins Institut und zu seinen fast rituellen Zigarreneinkäufen begleitete, musste sich daran gewöhnen, dass Ehrlich sich selten Zeit für Spaziergänge nahm und auch abends dauernd über Büchern saß. Er las Fachliteratur, aber auch Entspannungs-“Krimis“ – der Arzt und Autor A. Conan Doyle hat ihm einige seiner „Sherlock-Holmes-Bücher geschickt – in einer Schnell-Lesemethode „quer“. Wenn er Schriftliches ausarbeitete, hörte er dabei gern Schallplatten mit Operettenmusik.
Manchmal musizierte auch seine Frau für ihn, die sich längst damit abgefunden hatte, dass ihr Mann viel mehr mit seinem Beruf verheiratet war, die jüdischen Bräuche vergaß, die Erziehung der beiden Töchter vollständig ihr überließ, für gesellschaftliche Ereignisse keinen Sinn hatte und ohnehin am liebsten im Labor geschlafen hätte.
Hedwig Ehrlich hatte Mühe, ihren Mann vorzeigbar standesgemäß gekleidet aus dem Haus zu lassen. Er hatte sich angewöhnt, Mitarbeitern und  Besuchern seine Theorien und Formeln zu illustrieren. Dabei zeichnete er mit Bleistiften oder Kreide auf seine Manschetten, auf seine oder anderer gestärkte Hemdbrust, auf Fußböden und Wände – bis zum Ende der D-Mark hätte er zur Erläuterung seiner berühmten Seitenketten-Theorie einfach den 200-MarkSchein zeigen können. Damals wurde den Zuhörern die Sicht durch seinen Zigarrenqualm ohnehin erschwert. Augenzeugen berichten, dass er in seinem vordergründigen Chaos die größte Präzision beibehielt. Termine vergaß er oft. Wenn seine Sekretärin ihn längere Zeit nicht erreichen konnte, wie er sich (eben lange vor der Vervollkommnung der Kommunikationsmittel) durch an sich selbst gerichtete Postkarten auf Tagesereignisse hin. Einem möglichen Vergessen seiner Unterlagen selbst bei Stadtfahrten beugte er vor, indem er mitgeführte Mappen mit seiner Anschrift versah und eine Wiederbringer-Belohnung versprach.
Er muss ein angenehmer Vorgesetzter gewesen sein. Seine Mitarbeiter – viele Ausländer zählten dazu -, einige Namen klangen jüdisch, gingen für ihn durchs Feuer. Das Miteinander war (auch ohne heute übliche Hilfsmittel) durch vernetztes Arbeiten, durch Vertrauen und Zutrauen geprägt: Sein Name war ein immer erfülltes Versprechen.
Urlaub war Paul Ehrlich verhasst, weil er dabei nur eingeschränkte Arbeitsmöglichkeiten und lästige Familienpflichten sah. Schonung und gesunde Lebensweise hielt er bei sich selbst für entbehrlich. Ein ernster Warnschuss traf den auf Fotos früh gealtert Wirkenden im 61. Lebensjahr: Schlaganfall.
Als der erste Schreck überstanden war, wollte er weitermachen wie vorher, aber dem großen Arzt, dem Vater der Chemotherapie, dem wir Heutigen so viele weiterführende Grundlagenforschung verdanken, dem erfolgreichen Immunitätsforscher wurde bewiesen, dass einer, der rücksichtslos mit seiner Gesundheit umgeht, nicht immun ist gegen einen frühen Tod.
Vielleicht war es ihm eine Genugtuung, dass er in seiner Lebensspanne außerordentlich viel für die Menschheit leisten konnte – und dass andere absehbar auch nach Jahrzehnten auf seine Vorarbeiten aufbauen und sie weiterführen können.
Ehrlich starb am 20. August 1915. An seinem Grab auf dem israelitischen Friedhof von Frankfurt sprach Herr von Behring gerührt von großer Dankbarkeit gegen einen „intimen Freund“. Er könne dessen Charakter, Gesinnung und Wesen nicht hoch genug rühmen; er nannte ihn einen „Wissenschaftskönig und weltweit wirkenden Lehrer“, der seine für den Fortschritt des menschlichen Wissens und Könnens unschätzbare Lebensleistung uneigennützig verfügbar gemacht habe … Solche Freundlichkeiten hätte Ehrlich von diesem Mann wohl gern bei Lebzeiten erfahren – und noch lieber durch Taten.
Hedwig Ehrlich musste in hohem Alter in den Dreißiger Jahren vor den Juden hassenden und verfolgenden Nationalsozialisten in die USA emigrieren; sie starb dort 1949. Ihre Tochter Marianne hatte den Göttinger Mathematiker Edmund Landauer geheiratet. Weil auch er Jude war, wurde er 1933 aus seinem Lehramt entlassen. Er starb wie Ehrlich 61-jährig – kurz bevor Hitler mit der Massenermordung der Juden begann. Seine Witwe hat ihre Mutter in die Emigration begleitet.
Hedwig Ehrlich und Marianne Landauer konnten in den USA verfolgen, wie die Lebensarbeit Paul Ehrlichs in allen Ländern gewürdigt wurde, nur nicht in Deutschland: Wenn die NaziHerrscher stolz aufzählten, dass deutsche Forscher die meisten Nobelpreise „für Deutschland errungen“ hatten, verschwiegen sie Paul Ehrlich. Der stille Jude ließ nicht zu, dass man auch mit wissenschaftlichen Höchstleistungen die behauptete Überlegenheit einer „arischen Rasse“ begründen konnte, zu der sich die deutschen Faschisten zählten und für die sie die Weltherrschaft beanspruchten.
2029 feiern wir am 14. März den 175. Geburtstag von Paul Ehrlich. Vielleicht kommen die auf Dienstkosten teilnehmenden Wissenschaftler am Frankfurter Paul-Ehrlich-Symposium aus aller Welt auf Gedanken, wie und womit man diesen großartigen Gelehrten wirkungsvoll ehren kann – außer mit schönen Worten.
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Verwendete Literatur:
Paul Ehrlich: Beiträge zur Theorie und Praxis der histologischen Färbung, Dissertation, Universität Leipzig 1878

Paul Ehrlich: Das Sauerstoffbedürfnis des Organismus. Eine farbenanalytische Studie,
Habilitationsschrift, Berlin, 1885

Paul Ehrlich: Gesammelte Arbeiten zur Immunitätsforschung, Berlin 1904

Paul Ehrlich / Adolf Lazarus / Felix Pinkus: Leukämie, Pseudoleukämie, Hämoglobinämie,
Wien,1901

Paul Ehrlich: u. a. Beiträge in Fachzeitschriften:
Deutsche medizinische Wochenschrift, Berlin 1881, 1882, 1883, 1886, 1890, 1891, 1892, 1894,
1898, 1901, 1903

Berliner klinische Wochenschrift, 1896, 1891, 1899, 1900, 1901, 1902, 1903, 1904, 1905,
Charité-Annalen, Berlin 1883, 1885, 1886, 1887
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Über Paul Ehrlich:
Alfred Beyer; Paul Ehrlich und Emil von Behring, Berlin-DDR 1954
Friedrich Deich: Emil von Behring, in: Die Großen, Leben und Leistung der sechshundert bedeutendsten Persönlichkeiten unserer Welt, herausgegeben von Kurt Fassmann, Bd. IX/1,
Zürich 1976
F. Himmelweit und Martha Marquardt (Herausgeber): The Collected Papers of Paul Ehrlich,
London-New York, 1956-1960
Hans Löwe: Paul Ehrlich, Schöpfer der Chemotherapie, Stuttgart 1950
Martha Marquardt: Paul Ehrlich, Berlin-Göttingen-Heidelberg 1951
Hans Sachs: Paul Ehrlich, in Schlesische Lebensbilder, herausgegeben von der Historischen
Kommission für Schlesien, Breslau 1926
Reinhard Schulz: Der Streit um das Salvarsan im Spiegel der Tagespresse, medizinische
Dissertation, Marburg 1980
Eduard Seidler: Paul Ehrlich, in: Die Großen, Leben und Leistung der sechshundert bedeutendsten Persönlichkeiten unserer Welt, herausgegeben von Kurt Fassmann, Bd. IX/1, Zürich
1976
Henry E. Sigerist: Paul Ehrlich, in Ders.: Große Ärzte. Eine Geschichte der Heilkunde in
Lebensbildern, München 1932
Otto Heinrich Warburg: Paul Ehrlich, in: Neue Deutsche Biographie, herausgegeben von der
Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 4. Bd., Berlin
1956

ZEITTAFEL des Lebens und Wirkens von Paul Ehrlich:


14. März 1854 Geburt im niederschlesischen Strehlen (heute Strzelin/Polen)
Eltern: Ismar Ehrlich, Vorsteher der jüdischen Gemeinde (Destillator und Lotterieeinnehmer) und die Kaufmannstochter Rosa, geb. Weigert.
1877 Medizinstudium in Breslau, Straßburg, Freiburg, Leipzig
1877 Staatsexamen in Breslau
1878 Dissertation, Assistent, danach Oberarzt an der Charité in Berlin
1883 Heirat mit Hedwig Pinkus, später zwei gemeinsame Töchter
1884 Professortitel
1887 Habilitation
1888 Erkrankung an Tbc., Aufenthalt in Ägypten
1899 Rückkehr, Arbeit im Privatlabor
1891 Mitarbeiter von Robert Koch am Institut für Infektionskrankheiten in Berlin
1896 Direktor des Königl. Instituts für Serumforschung und Serumprüfung in Berlin-Steglitz
1899 Verlegung des Instituts nach Frankfurt am Main; Erweiterung zum Institut für experimentelle Therapie
1904 Honorarprofessor in Göttingen
1906 Angliederung des Georg-Speyer-Hauses für Chemotherapie in Frankfurt a.M.
1908 Nobelpreis für Medizin zusammen mit russ. Biologen Metschnikow
1908 Zusammen mit seinem japan. Mitarbeiter Hata Entdecker des Salvarsan-Heilmittels
gegen die Syphilis, das ab 1910 industriell hergestellt werden konnte.
Geheimrat, danach Wirklicher Geheimrat, danach Titel „Exzellenz“
1914 Ordinarius an der neuen Frankfurter Universität. Ehrenbürger der Stadt Frankfurt
1915 Tod am 20. August in Bad Homburg.
Beerdigung auf dem israelitischen Friedhof in Frankfurt am Main.

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